Ein hoher Zuckerverzehr birgt gemäß Weltgesundheitsorganisation (WHO) Risiken für Adipositas und ernährungsbedingte Erkrankungen.1 Der Anteil von freiem Zucker in der Nahrung sollte deshalb deutlich beschränkt werden.2 Aber macht der Trend „zuckerfreie Ernährung“ Sinn? Was ist Fakt, was ist Mythos gerade bei Menschen mit ernährungsbedingten Erkrankungen? Mit Einordnungen von Dr. Stefan Kabisch, Studienarzt an der Medizinischen Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselmedizin der Charité in Berlin. | |
Süße Speisen und Getränke schmecken lecker und machen Lust auf mehr. Das kennen wohl die meisten Menschen aus eigener Erfahrung. Wer häufig süß isst, hat deshalb öfter ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen. Jedenfalls konnte die WHO diesen Zusammenhang herstellen: Demnach kann eine erhöhte Aufnahme von sogenanntem freien Zucker mit einer vergleichbaren Zunahme des Körpergewichts in Verbindung gebracht werden – und umgekehrt.2 | |
Unter „freien Zuckern“ versteht die WHO Monosaccharide und Disaccharide, die den Lebensmitteln und Getränken zugesetzt werden, sowie Zucker, die von Natur aus in Honig, Sirup, Fruchtsäften und Fruchtsaftkonzentraten enthalten sind. Zucker in Obst und Gemüse sowie Milch- und Milchprodukten – also in nicht bearbeiteten Lebensmitteln – sind ausgeschlossen. Die Argumentation dahinter: Den natürlichen Lebensmitteln werden überwiegend positive Eigenschaften zugeschrieben. Sie beinhalten viele gesunde Bestandteile wie Vitamine oder Ballaststoffe und sollten daher nicht wegen des Zuckerbestandteils gemieden werden.
Aufgrund des Zusammenhangs zwischen der Zunahme des Körpergewichts bei erhöhter Zuckerzufuhr, gibt die WHO folgende Empfehlung: Die Aufnahme von freiem Zucker sollte auf 10 % des täglichen Energiebedarfs begrenzt werden.2 Um es einmal ganz praktisch auszudrücken: Eine Person, die täglich 2.000 Kilokalorien benötigt, um ihr Gewicht zu halten, sollte maximal 200 Kilokalorien davon in Form von freiem Zucker aufnehmen. Zucker schlägt mit 4 Kilokalorien pro Gramm zu Buche. Demnach sollten täglich nicht mehr als 50 g freier Zucker verzehrt werden. Das entspricht zirka 10 Teelöffeln oder 14 Stück Würfelzucker oder einem halben Liter Cola.
50 Gramm Zucker täglich – diese Menge ist schnell erreicht, insbesondere, wenn zuckerhaltige Getränke und viele Fertiggerichte verzehrt werden. Eine zuckerarme Ernährungsweise könnte für den einen oder anderen reichlich Veränderung bedeuten. Aber muss es gleich zuckerfrei sein? | |
Zuckerfrei: Top oder Flop | |
Die zuckerfreie Diät liegt mit Blick auf die Ratgeber-Regale in Buchhandlungen seit einigen Jahren voll im Trend. Auch über die sozialen Medien verbreitet sie sich wie ein Lauffeuer. Sie verspricht einen schlanken Körper. Gleichzeitig soll sie ein junges Aussehen erhalten und die Konzentrationsfähigkeit verbessern, wie in populären Magazinen skizziert wurde.3 Die Erfahrung lehrt: Je mehr Versprechen eine Diätform halten soll, desto weniger steckt oft dahinter. Wissenschaftliche Evidenzen scheint es in jedem Fall nicht zu geben, wie Recherchen in Fachdatenbanken ergeben haben. Manche zuckerfreie Diäten gehen soweit, nicht nur den freien Zucker aus dem Speiseplan zu streichen, sondern auch die natürlicherweise in Obst und Gemüse sowie Milch- und Milchprodukten vorkommenden Zucker. Selbst komplexe Kohlenhydrate, die zu Zuckern umgebaut werden können, werden kritisch betrachtet. Das ist wissenschaftlich nicht haltbar und entspricht nicht den Empfehlungen der WHO.
Richtig ist, dass zu viel Zucker zu Hyperinsulinämie führen kann. Daraus kann sich eine
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Leptin-Resistenz
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Insulin-Resistenz
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Natrium- und Flüssigkeitsretention sowie eine
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Aktivierung des sympathischen Nervensystems
ergeben.4 Die Leptinresistenz ist ein Risiko für Übergewicht. Eine Insulinresistenz ist ein Vorbote für Diabetes, koronare Herzkrankheit, Schlaganfall und eine chronische Nierenerkrankung. Werden Natrium und Flüssigkeit reteniert, folgt oft ein Bluthochdruck. Ebenso kann sich eine Aktivierung des sympathischen Nervensystems auswirken.4
Und auch zu entzündlichen Erkrankungen wie Rheuma oder anderen Autoimmunerkrankungen (z. B. Schilddrüse) gibt es eine Schnittstelle zum Zuckerverzehr, worauf eine Studie hindeutet.5 Immunzellen benötigen eine Menge Zucker (Glukose), um ihre Aufgaben zu erfüllen. Sie nutzen für die Glukoseaufnahme den GLUT3-Transporter. Als Nebeneffekt kann ein proinflammatorischer Pfad angestoßen werden, je mehr Zuckerstoffwechsel stattfindet.5
„Zucker ist praktisch immer problematisch, wenn er in größeren Mengen zu sich genommen wird. Dabei ist es relativ egal, von welchem Zucker wir sprechen“, erklärt Dr. Stefan Kabisch, Studienarzt an der Medizinischen Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselmedizin der Charité in Berlin. Ob Fruktose, Glukose oder Saccharose: Das Entscheidende sei die Kalorienbilanz und der appetitanregende Effekt, der vom Süßreiz ausginge und meist zu einer erhöhten Kalorienaufnahme führe. | |
Zuckerersatz – (k)eine Lösung | |
Wenn der Verzicht auf Zucker schwer umzusetzen ist und eher eine Option für eine kurze Zeit zu sein scheint, also aufgrund fehlender Daten keine Dauerernährung sein sollte, wie sieht es dann mit dem Ersatz von Zucker durch Zuckeraustausch- und Süßstoffe aus: Könnte damit nicht Zucker eingespart und trotzdem süß gegessen werden? Zuckeraustauschstoffe wie Erythrit und Xylit (Birkenzucker) sind ähnlich süß wie Zucker, liefern aber deutlich weniger Kalorien als dieser. Außerdem steigt durch sie der Insulinspiegel nicht an. Und sie tragen nicht zu Karies bei. Dafür kann der Verzehr von zu viel Zuckeraustauschstoffen zu Diarrhoe, Blähungen und Bauchschmerzen führen. In-Vitro-Analysen und Interventionsstudien mit einigen wenigen Probanden geben Hinweise darauf, dass der Verzehr von Erythrit und Xylit möglicherweise das kardiovaskuläre Risiko erhöhen könnte.6,7 Diese Aussagen sind allerdings wissenschaftlich umstritten und es bedarf weiterer Untersuchungen, um valide Erkenntnisse erzielen zu können.
Süßstoffe wie Aspartam oder Stevia haben eine bedeutend höhere Süßkraft als Zucker und tragen nicht oder nicht nennenswert zur Kalorienaufnahme bei. „Süßstoffe können ein sinnvolles Element der Ernährungsumstellung sein – sie können aber auch einen Teil des Problems darstellen“, meint Dr. Kabisch. Durch den Einsatz ließe sich Gewicht reduzieren, aber weniger deutlich als es durch die eingesparten Kalorien zu vermuten wäre. Kritisch sieht der Experte, dass durch die Verwendung von Süßstoffen die Süßpräferenz erhalten bliebe und damit die Konditionierung auf poteziell kalorienreiche Lebensmittel. Es käme nicht zu einer Änderung des Ernährungsmusters. | |
Es ist allgemein bekannt, dass wir Menchen in westlich gut situierten Ländern zu viel Zucker zu uns nehmen. Im Durchschnitt sind es bei Frauen 61 Gramm am Tag und bei Männern 78 Gramm. Bei Kindern liegen die Mittelwerte oft sogar darüber.8 Es ist auf jeden Fall anzuraten, den Zuckerkonsum auf das empfohlene Maß der WHO zu reduzieren. Das betrifft grundsätzlich alle Menschen und besonders dann, wenn ein Übergewicht oder Diabetes vorliegen. Auch Menschen mit entzündlichen Erkrankungen wie Rheuma sind gut beraten, ihr Zuckermaß einzuschränken. Für den Nutzen einer komplett zuckerfreien Ernährung gibt es keine Evidenz.
Wertvolle Tipps sind daher,
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Nahrung möglichst selbst herzustellen und dabei den Zuckeranteil zu kontrollieren (zuckerarm, nicht zuckerfrei)
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die Familie und Freunde mit ins Boot zu holen, damit sie ihrerseits mitmachen oder zumindest die Versuchung reduzieren
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Snack-Variationen (z. B. Rohkost, Obst oder Nüsse) für den Fall eines Hungers zwischendurch parat zu haben
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nicht hungrig einkaufen zu gehen und die Süßigkeiten-Abteilungen zu umschiffen
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Gewohnheiten zu überdenken: Eine Tasse Kaffee schmeckt auch ohne Törtchen
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